Ja - volle Zustimmung. Allerdings muß man dabei immer bedenken: Wann Charaktere sie selbst sind und wann nicht, welche Motivationen charaktergemäß sind, welche Dinge sie interessieren und welche nicht etc. - das bestimmst Du! Und deshalb widerspricht es dieser Vorstellung überhaupt nicht, wenn ich als SpielerIn entscheide, daß mein Charakter eine bestimmte Einstellung verändert, bestimmte Motivationen entwickelt und sich für bestimmte Dinge interessiert - weil mir das aus dramaturgischen Gesichtspunkten wünschenswert oder für den Gruppenzusammenhalt förderlich erscheint.Mir macht Rollenspiel kein Spaß, in dem Charaktere nicht sie selbst sind. In dem Charaktere Motivationen entwickeln, die sie ihrem Charakter gemäß nicht entwickeln würden. In dem sie Dingen nachgehen, die sie nicht interessieren. In dem sie Dinge tun, die nicht zu ihnen passen. In dem sie Sachen erlernen, die sie nicht interessieren.
Da ich über den Hintergrund und den Charakter meiner Figur bestimme, bestimme ich auch darüber, welche Veränderungen und Entwicklungen der Charakter durchmacht. Solche Entwicklungen verstehen sich ja nicht von selbst und sind meistens aus dem Hintergrund, den ich einer Figur bei ihrer Erschaffung mitgegeben habe, kaum zu extrapolieren. Natürlich gilt es, eine innerweltlich möglichst stimmige und gute Begründung dafür zu liefern, warum meine Figur diese Veränderungen und Entwicklungen durchmacht - aber da Menschen (und Elfen und Zwerge...) eine recht komplexe Psyche haben dürften und Abenteuerer naturgemäß viele aufwühlende und beeindruckende Dinge erleben, sollte es nicht das Problem sein, dafür einen stimmigen Hintergrund zu liefern.
Und: Das ist doch weit sinnvoller und angenehmer, als wenn der Meister irgendwann zu Mitteln greift, dem Charakter diese Veränderungen mehr oder weniger subtil im Spiel "aufzuzwingen". (Was zuweilen einfach notwendig sein kann, weil der Spieler mit seinen Vorstellungen immer weiter von der Realität der Welt "wegdriftet".)
Ich habe es in der letzten Zeit und gerade im Zuge der 7G sehr schätzen gelernt, immer wieder Rücksprache über die Enwicklung von Charakteren zu halten, weil mir was daran liegt, daß diese Entwicklungen mit dem dramaturgischen Konzept des Meisters für die Kampagne in einem produktiven Zusammenhang stehen. Und ich hatte bei solchen Gesprächen nie das Gefühl, das würde dazu führen, daß meine Charaktere nicht mehr sie selbst sind, daß sie Motivationen entwickeln, die nicht zu ihnen passen etc.
Um auf Deinen wichtigsten Begriff zu kommen: Ja, ich habe das Gefühl, realistisches Rollenspiel zu machen -- das trotzdem dem "narrativen Imperativ" folgt insofern, als das oberste Ziel das gemeinsame Erzählen einer spannenden Geschichte ist. Ich glaube tatsächlich, daß man beides verbinden kann. (Zumindest wenn man meine oben ausgeführt Definition vom "narrativen Imperativ" zugrundlegt.)
Ja, das kann ich mir ungefähr vorstellen. Ich glaube, bei mir ist es bißchen umgekehrt: Ich bin momentan recht skeptisch gegenüber dem "Primat des Charakterspiels", weil ich damit schlechte Erfahrungen gemacht habe.Ich habe wohl sehr schlechte Erfahrung mit dem narrativen Imperativ gemacht, und muss mich deswegen erstmal sehr stark in die andere Richtung bewegen.
Bei uns hat dies u.a. dazu geführt, daß wir eigentlich nie eine echte Heldengruppe haben, sondern immer nur teilweise recht exzentrische Einzelcharaktere, die das Schicksal oder der Zufall halt wieder mal alle zur richtigen Zeit am richtigen Ort hat zusammentreffen lassen und deren Fähigkeiten praktischerweise recht gut zusammenpassen. (Und einige der Charaktere kennen sich wirklich schon ewig lange!) Es hat dazu geführt, daß die meisten unserer Charaktere die Gruppe wohl als eine reine Zweckgemeinschaft ansehen, die man eben mal betrügen und hintergehen kann, wenn einem das irgendwelche Vorstellungen gerade nahlegen oder die man stillschweigend wieder verläßt, wenn das Abenteuer vorbei ist, um sich wieder um die eigenen Dinge zu kümmern. Es hat dazu geführt, daß sich Charakterspiel selbst vor allem in Einzelaktionen äußert, die die anderen SpielerInnen nur nerven.
Ich empfinde das weder als allgemeine Rollenspielsituation noch in bezug auf die besonderen Erfordernisse der 7G gut oder wünschenswert. Und ich glaube nicht, daß eine Veränderung dieses Zustandes zu weniger realistischem Rollenspiel und weniger gutem Charakterspiel führen oder dieses bedingen würde.
Denn: problematisch ist nicht das realistische Rollenspiel oder das Charakterspiel an sich, problematisch und kontraproduktiv wird es dann (meiner konkreten Erfahrung nach), wenn die SpielerInnen ihre Charaktere und das möglichst realistische Ausspielen derselben nach ihren Vorstellungen über alles stellen - und eben auch über das Ziel, gemeinsam eine spannende Geschichte zu erzählen. Bei uns zumindest hat das z.T. dazu geführt, daß die Vorstellungen der Spieler über ihre Charaktere immer mehr von den Vorstellungen der Welt, die der Meister hat, weggedriftet sind - nur um ihr Charakterkonzept durchzuboxen.
Ich habe den Eindruck, für die SpielerInnen meiner Gruppe ist die Kampagne eigentlich nur die Bühne für die Selbstdarstellung ihrer Figuren - und die Ereignisse und Abenteuer (also die zu erzählende Geschichte) sind entweder gute Gelegenheiten, sich in Szene zu setzen, oder sie sind nur störende Randerscheinungen wie ein Husten im Zauschauerraum, das man im besten Falle einfach ignoriert und sich in seiner eigenen Darstellung nicht weiter stören läßt. Ich habe den Eindruck, daß solche Ereignisse von den Spielern eher achselzuckend hingenommen werden, weil der Meister ja auch irgendwo sein Betätigungsfeld braucht - daß sie aber kaum einmal als Ansatzpunkte für Veränderungen der Figuren verstanden und aufgegriffen werden. Natürlich ist das alles jetzt ein bißchen übertrieben, aber meiner Einschätzung nach können dies die Konsequenzen des Primats des Charakterspiels sein - das sich eben für die zu erzählende Geschichte und die Tatsache, daß daran alle beteiligt sind und daran mitwirken (sollten) - also den narrativen Imperativ - nicht mehr interessiert.
(Ich muß noch hinzufügen, daß besagte Spieler wirklich sehr gutes Charakterspiel machen und durchaus auch realistisches Rollenspiel - jedenfalls entsprechend den Vorstellungen, die sie vom Realismus der Welt haben.)
Problematisch wird die ganze Sache also dann, wenn die SpielerInnen sich überhaupt nicht darauf einlassen, mal darüber nachzudenken, ob die Spielerentscheidungen, die sie bezüglich Motivationen, Einstellungen und Handlungen ihrer Charaktere treffen, eigentlich fürs Rollenspiel insgesamt mehr kontraproduktiv als alles andere sind. Und das ist dann kein Problem des Charakters, sondern des Spielers!
Aber aus dem Hintergrund des Helden allein lassen sich ja nicht dessen Entscheidungen und Einstellungen in allen möglichen Situationen erklären. Menschen verändern sich, und Helden umso schneller und gravierender, das haben sie aufgrund der Dinge, die sie erleben, nunmal so an sich. Aber da diese Erlebnisse die Veränderungen nicht determinieren, sondern nur anstoßen, haben wir es hier eben mit einem weiten Feld für Spielerentscheidungen zu tun.wer darüber entscheidet, was der Held tut. Meine Antwort: Der Spieler entscheidet über den Hintergrund, über den Charakter des Helden. Was dieser dann aber tut, sollte eben von diesem Hintergrund abhängen, nicht von Informationen, die der Held nicht haben kann.
Deshalb auch volle Zustimmung zu Shahanja:
Und: Ja, die Begründungen für Handlungen des Helden dürfen natürlich nicht auf Informationen fußen, die der Held nicht haben kann. Das finde ich ebenfalls ganz wichtig. Meine Sache als SpielerIn ist es da eben, für meine dramaturgisch motivierten Spielerentscheidungen innerweltliche Begründungen zu finden, so daß der Held aufgrund von Motivationen aus der Spielwelt so handelt, daß es dem Ziel des Erzählens der Geschichte zugute kommt.Manchmal wird gutes Rollenspiel viel zu sehr damit gleichgesetzt, seine fixen Hintergründe und Vorbereitungen für einen SC auf jeden Fall im Spiel durchzusetzen. Das finde ich insofern etwas falsch, als dass der Mensch nicht so unflexibel ist. Ein Charakter sieht sich immer wieder in einer Situation, in die er früher nicht geraten wäre.
Soweit - Gruß, Travian